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Freitag, 13.12.2024 12:34

I061

1903 | Pedalklavier Wilhelm Hirl Berlin #231

Wilhelm Hirl

de Wit, Instrumentenbauzeitschrift 1889/90, S. 238: Bekanntmachung zu einem Doppel-Klavier mit Orgelpedal - eine Erfindung, die dem Hirlschen Pedalklavier vorausging.

Wilhelm Hirl gründete seine Pianofabrik wohl 1874 in Berlin; ab 1888 baute er Pianinos mit "selbstklingendem" (= selbstständigem) Pedalklavier. Hierfür erhielt er ein Patent (siehe nebenstehende Nachricht aus der Zeitschrift für Instrumentenbau 1889/90, S. 238; auf die klangliche Besonderheit, 1. und 2. Manual u.a. durch verschiedene Klangabstrahlungsrichtungen unterscheidbar zu machen, geht der kurze Artikel leider nicht ein; es ist nicht bekannt, ob ein derartiges Instrument erhalten ist.)

Hirls Instrumente hatten in der Branche eine gewisse Prominenz oder Singularität, wie sich aus dem Hinweis bei Paul de Wit (Zeitschrift für Instrumentenbau Jg. 1912, s.u.) erschließen lässt.

Bis zu seinem Tode (1. Dezember 1905 in Berlin im Alter von 67 Jahren) und der sich anschließénden Auflösung seiner Firma wird Hirl in seiner Werkstatt etwa 250 Pedalklaviere hergestellt haben. Dies zeugt zum einen von einer gewissen Serienfertigung, zum anderen aber doch vom recht kleinen Markt für derartige Sonderkonstruktionen. So verwundert es nicht, dass lediglich einige wenige Pedalklaviere erhalten geblieben sind.

Die Pedalklaviere wurden mit Pianinos kombiniert, waren also eher für häusliches Musizieren und üben und nicht (wie der oben erwähnte unikate Bösendorfer-Pedalflügel) für das öffentliche Konzertieren gedacht.

Wilhelm Hirl machte sich darüber hinaus einen Namen als Erbauer und Restaurator von Cembali. ("Um die Jahrhundertwende 1899 bis Anfang 1900 baut er als erster einen 'Bachflügel' [....]"; in: Hubert Henkel, Art. Hirl, Wilhelm [s.u.], S. 254; "In 1899 Wilhelm Hirl, a. Berlin piano maker, made the first copy of the pseudo-Bach harpsichord for a collector and connoisseur in The Hague. ..."; in: Howard Schott, The Harpsichord Revival, in: Early Music [1974], S. 85-96; "A rubber stamp indicates inside that in 1903 Wilhelm Hirl of Berlin made the last complete restoration of this beautiful instrument [...]"; in: Friedrich Ernst: Four Ruckers Harpsichords in Berlin; in: The Galpin Society Journal, Vol. 20, [März 1967], S. 63-75)

Die besondere Geschichte des Instrumentes #231 der Sammlung Dohr belegt dieses: Die durch handschriftlichen Eintrag auf dem Resonanzboden als Vor-Eigentümer belegte Firma Rütter in Leipzig war bezeichnenderweise direkte Nachbarin der Leipziger Hochschule für Musik (drei Häuser weiter = Grassistraße 8), das Pedalklavier wurde also vermutlich rege an Orgelstudenten ausgeliehen, die es nicht wenig traktierten - das Instrument weist sehr starke Abnutzung im Bereich der Pedalerie und der Leiste oberhalb der Halbtontasten auf - dort, wo ein Organist seine Füße zwischenzulagern pflegt. [Das Instrument wurde in den Jahren ca. 1940 bis 2010 nachweislich nicht gespielt, sondern in Pietät gegenüber dem Nicht-Kriegsheimkehrer aufbewahrt, s.u.]

Kurzcharakteristik / Materialsammlung

Pedalklavier Wilhelm Hirl 1903, Schrägaufsicht Pedalklavier Wilhelm Hirl 1903, Stempel Resonanzbodenunterseite
Pedalklavier Wilhelm Hirl 1903, Mechanikdetail / Auslösung Pedalklavier Wilhelm Hirl 1903, Seriennummer und Fertigungsdatum als Schlagstempel auf dem Stimmstock
Pedalklavier Wilhelm Hirl 1903 - Aufsicht ohne Abdeckungen Pedalklavier Wilhelm Hirl 1903 - oberschlägige Mechanik
Pedalklavier Wilhelm Hirl 1903, Schrägaufsicht Spielmechanik Pedalklavier Wilhelm Hirl 1903. Gussrahmen - Wirbelanordnung - Chörigkeit

 

  • Stempel auf Resonanzbodenunterseite und rechts auf Stimmstock, links und rechts je zwei ebenfalls gestempelte Plaketten: "Wilhelm Hirl / Pianoforte-Fabrikant / Spec. Pedalklaviere eigener Construction / Berlin SO / Manteuffel Strasse 31/2"; Handschriftlich darunter: "#231"; Zettel (ca. DIN A 5) daneben, mit Tusche beschriftet: "231"; Schlagstempel links auf Stimmstock: "231. 1.10.03."; mit Bleistift unter Stempel: "Mietinstrument der Firma Carl M. F. Rothe [Dank an Herrn Jan Großbach/FFM, für zur Dechiffrierung hilfreiche Informationen aus den "Weltadressbuch" 1929] / Leipzig, Grassistr. 14 / Nr. 31"; mit Kreide unter Bank: "231"
  • Dokument: Brief vom Vorbesitzer vom 02.06.2010: "Sehr geehrter Herr Dohr! / Ich nehme Bezug auf Ihren gestrigen Anruf und kann noch folgende Angaben zu dem Pedal-Klavier machen: / Im Kassenbuch meines Vaters ist am 4. Febr. 1938 eingetragen: Von Chr. Wüst, Musiklehrer in Sinsheim 1 Klavier mit Pedalklavier gekauft zu 400,-- RM. Für den Transport kamen noch 8,-- RM hinzu. Als Hersteller ist auf dem Klavier [...] vermerkt: / G. Schwechten, Hof-Piano-Forte-Fabrikant, Berlin. [...] / Am 19. Febr. 2938 hat mein Vater unser vorheriges Klavier zu 240,-- RM an eine Familie im Nachbarort Zuzenhausen verkauft. / Weitere schriftliche Unterlagen haben wir nicht mehr. [...]."
  • Notabene: Das Pedalklavier von Wilhelm Hirl ist bisher das einzige besaitete Tasteninstrument in der Sammlung Dohr, das sein Fertigungsdatum taggenau durch Eintrag im Instrument preisgibt und zusätzlich bzw. gleichzeitig über eine Seriennummer verfügt.
  • "liegendes" Pedal-Klavier (bei de Wit [1912] als "Hirl'sches selbstklingendes Orgelpedal" bezeichnet) als Unterbau unter ein aufrechtes, aufgestelltes Pia[ni]no. Das Instrument ist extrem kompakt gebaut, nimmt es doch nicht mehr Platz in Anspruch, als Bank und Pedalklaviatur sowieso beanspruchen.
  • Gehäuse-Aufbau: Korpuskonstruktion als oben offene, teilverschlossene Wanne; Kopfseite und vorne oben durch L-förmige massive Abdeckung geschlossen (verschraubt); auf dieser Abdeckung befindet sich die hölzerne, ungepolsterte Sitzbank, deren Kippsicherheit durch schwalbenschwanzförmige Führungsleisten hergestellt wird; Instrumentenende (im spielfertigten Zustand unterhalb des Pedalklaviers) durch Holzrahmen mit Mittelsteg, Träger einer textilen Bespannung, verschlossen: zwischen hinterer und vorderer Abdeckung befindet sich ein lose eingelegtes, verschiebbares Brett, das den Spielerfüßen als Ablage dient, wenn das Pedalklavier nicht benutzt wird. Das aufrechte, aufzustellende Piano steht nicht unmittelbar mit seinem Gewicht auf dem Pedalklavier, sondern ruht auf zwei Böcken, die links und rechts das Pedalklavier umfangen (siehe Foto bei Neufeind)
  • Maße
    • 128 cm breit,
    • 126,5 cm lang
    • 25 cm hoch (hinten, mit Abdeckung, jedoch ohne die vier Walzenrollen am Instrumentenboden, die in den Boden teilversenkt sind, gemessen).
  • parallele, ebene Pedal-Klaviatur (also nicht strahlenförmig, nicht konkav), stark abgespielt. Die Tasten sind vorne drehend beweglich gelagert und werden durch Federn an ihrem hinteren Ende nach oben gedrückt.
  • keine "Veränderung" (Moderatur / Dämpfungsaufhebung / etc.)
  • einfach gehaltener Gussrahmen mit drei Spreizen (links, rechts, mittig)
  • Anhangsteg hinten, Klangsteg vorne, Wirbel vorne tonweise gruppiert (1/2/3), Tonbuchstaben mittels Schlagstempel auf Stimmstock vor dem jeweils vordersten Wirel eingeschlagen.
  • oberschlägige Mechanik mit einfacher Auslösung nach englischem Vorbil, wohl 1888 patentierte Mechanik,am hinteren Ende der Tasten, Hammerköpfe vom Spieler wegzeigend
  • Ambitus/Bezug: C-f1 = 30 Tasten = 2 1/2 Oktaven
    • C-H [elf Töne] = einchöriger Bezug, umsponnen (die tiefsten Saiten doppelt umsponnen)
    • c-cis1 [15 Töne] = zweichöriger Bezug, umsponnen
    • d1-f1 [vier Töne] = dreichöriger Bezug, blank
  • Mensur:
    • C = 1052 mm
    • f1 = 892 mm
    • Ergebnis: Differenz zwischen längster Saite im Bass und kürzester Saite im Diskant (=2 1/2 Oktvaven) lediglich ca. 16 cm, Mensurberechnung also weit entfernt von dem im Klavierbau üblichen Reglement.
    • gerader Steg
    • Bezug leicht strahlenförmig
    • Lage der Saiten streng an den Tasten orientiert, d.h. Spatien je zwischen h/c und e/f

Voreigentümer: (laut Bleistiftnotiz, s.o.) Klavierhandlung M. F. C. Rothe, Leipzig [als Mietinstrument im Einsatz]; (vorletzter) Chr. Wüst, Musiklehrer in Sinsheim bei Heidelberg; (letzter) Privatbesitz Fam. Welker in Meckesheim bei Heidelberg. Das Instrument war 1938 gebraucht gekauft worden, damit der Bruder des Verkäufers daheim Orgelliteratur pedaliter üben konnte. Der Bruder wurde zu Beginn des Zweiten Weltkrieges eingezogen; das Instrument wurde zur Einnerung an den nicht Heimgekehrten bis 2010 (Räumung des Hauses aus Altersgründen) aufbewahrt.

Literatur:

  • Paul de Wit: Welt-Adreßbuch der gesamten Musikinstrumenten-Industrie, Leipzig 1912
  • Hubert Henkel, Art. "Hirl, Wilhelm", in: ders., Lexikon deutscher Klavierbauer, 1. Aufl. Frankfurt/Main 2000, S. 253f.
  • Martin Schmeding: Der Pedalflügel - instrumentale Revolution oder Sackgasse der musikalischen Evolution? Zum 200. Geburtstag von Robert Schumann. in: Ars Organi, 58. Jg. (2010), S. 139-145.